Für das Einstellen dieses bemerkenswerten Audio-Files gibt es zwei Anlässe:
1. Das Erscheinen von William S. Burroughs Roman The Naked Lunch jährt sich heuer zum fünfzigsten Mal.
2. Kurt Bracharz’ neues Buch Für reife Leser ist bei Haymon erschienen.
Angeregt von Alberto Manguels Tagebuch eines Lesers, nahm sich Kurt Bracharz für das Jahr 2006 vor, jeden Monat eines jener Bücher wieder zu lesen, die sein Denken und Schreiben besonders beeinflusst haben, um daraus literarischen Mehrwert zu gewinnen. Gleich vorweg die Liste in der vom Autor vorgegebenen alphabethischen Reihenfolge:
William S. Burroughs (The Naked Lunch), Wilhelm Busch (Der Schmetterling), Elias Canetti (Die Blendung), Salvador Dalí (Verborgene Gesichter), Don DeLillo (Mao II), Alfred Döblin (Berlin Alexanderplatz), Witold Gombrowicz (Kosmos), George Herriman (Krazy Kat), James Joyce (Ein Porträt des Künstlers als junger Mann), Christine Lavant (Das Kind), Henri Michaux (Ein gewisser Plume), Wladimir Nabokov (Pnin).
Dass der leidenschaftliche Leser Bracharz vermutlich noch 25 andere 12er-Listen zusammenstellen hätte können, die seine Vorlieben ähnlich repräsentativ wiedergegeben hätten, steht außer Zweifel, die von ihm gewählte enthält allerdings genügend Klassiker der Weltliteratur, dass weder der Verdacht der Willkür noch der des literarischen Separatismus entsteht, zumal einige Autoren sogar mit ihren Hauptwerken vertreten sind.
Nun liefert Bracharz natürlich keine Aufzählung von Inhaltsangaben, auch nimmt er es nicht so genau mit der Zuordnung der Monate zu den Autoren oder umgekehrt, und die Gewichtung der Lektüre ist ebenfalls nicht ausgewogen. Auch Liebhaber schöner nach Epochen oder Genres oder einem abgesegneten Kanon geregelter Ordnungen wird das Buch beunruhigen, denn Bracharz kümmert sich nicht um Stringenz und schon gar nicht um Vermittlung. Er selbst liefert bereits in der Vorbemerkung die entsprechende Metapher: „Ich habe die Literatur immer als Myzel gesehen, (...) als ein ungeheures Geflecht (...) von unterirdischen, miteinander verbundenen, fadenförmigen Strukturen, die an der Oberfläche auffällige Verdickungen austreiben, beim Myzel die Schwämme, in der Literatur die großen Romane.“ Und um in diesem Bild zu bleiben, wir schauen Bracharz hier zu, wie er die Pilze putzt, die er irgendwann gefunden hat. Und je länger wir ihm zuschauen, umso mehr erkennen wir, dass es weniger um die Pilze geht als vielmehr ums Putzen, dass wir von ihm keine Rezepte geliefert bekommen, sondern wertvolle Wegbeschreibungen zu geheimen Fundorten, allerdings verschlüsselt in einer materialintensiven, assoziativen Prosa, einem „Netz von Anspielungen, das weiter reicht als jede noch so umfassende Bennenung.“ (Henry Green).
Andererseits bekommen wir nach In einem Jahr vor meinem Tod (Sabon-Verlag 2001) die Gelegenheit, ein weiteres Jahr „der Monotonie meiner Lebensweise“, mitzuverfolgen. Wie dort werden auch hier all die Zitate, Querverweise und Kurzanalysen zusammengehalten von alltäglichen Ereignissen seiner Biografie, die wiederum zusammengehalten wird von der Lektüre, die er immer und überall in Arbeit hat. Bracharz liest gute und schlechte Zeitungen, alte Comic-Klassiker und neu erschienene exklusive Sachbücher, und zitiert natürlich daraus, am liebsten die überraschenden und noch lieber die widersprüchlichen Stellen. Er liest im Zug, im Flugzeug, im Café und auf dem Klo. Er stöbert in Buchhandlungen, Antiquariaten und im Internet, und will er nicht mehr lesen, dann ergänzt er seine DVD-Sammlung oder schaut sich einen Film an, den er schon gesehen hat. Zum Beispiel Cronenbergs Naked Lunch, bei dem er sich fragt, was wohl jemand in diesen Bildern sehen mag, der den Roman nicht kennt. Ein Roman, dessen Erscheinungsdatum sich heuer zum fünfzigsten Mal jährt und dessen Lektüre Bracharz (war es hier oder anderswo?) als die einflussreichste Leseerfahrung seines Lebens beschreibt. Deshalb hinterlässt William S. Burroughs exzessives und unkonventionelles Leben bzw. Werk auch die deutlichste Spur in seinem Buch. Mit ihm ist die Messlatte an Makabrem, Obszönem, formal Riskantem und politisch Unkorrektem gelegt, über die es erst zu springen gilt. Vor allem ihn, aber auch die anderen von ihm wieder gelesenen Autoren, hetzt Bracharz auf alles, was sich an scheinbar Schönem, Korrektem, Moralischem und dabei „ekelhaft Bigottem“ in der zeitgenössischen Gefälligkeitskultur tagtäglich in den Vordergrund drängt. „Wo nehm ich nur all die Zeit her, soviel nicht zu lesen.“ (K. Kraus)
Frank Zappa wusste darauf eine Antwort, denn er war bekennender Nichtleser. Was ihn, den Kenner des Absurden und Surrealen, nicht davor bewahrte, der Faszination von W. S. Burroughs literarischem Kosmos zu erliegen. Hier zu hören die Talking Asshole Passage aus Naked Lunch, gelesen von Frank Zappa im Rahmen eines Auftritts am 12. Februar 1978.
Quellen:
Kurt Bracharz. Für reife Leser, Haymon, Innsbruck 2009
The Talking Asshole, www.ubu.com
Aufzeichnungsdatum: 2. Dezember 1978
Ort: New York City (Nova Convention)
Dauer: 5 min 25 sek
Einführung: unbekannt
Stimme: Frank Zappa
Textpassage: The Talking Assholes, aus: William S. Burroughs. Naked Lunch, Roman (1959)
Quelle: www.ubu.com