22.10.2009
Nobelpreisträgerin Herta Müller im Literaturradio

Erinnerung 1
An dieser Stelle etwas über die Person Herta Müllers zu schreiben dürfte nicht notwendig sein, ihre Biografie ist momentan ohnehin Thema des Feuilletons und außerdem [hier] nachzulesen. Nur auf einen Zusammenhang sei hingewiesen, über den bisher wenig zu hören war: Am 25. Dezember 2009 jährt sich zum zwanzigsten Mal die Hinrichtung Nicolae Ceausescus und seiner Frau Elena. Im Anschluss an ein Schnellverfahren, das Ceausescu selbst noch kurz vorher durch das Ausrufen des Ausnahmezustands rechtlich möglich gemacht hatte, wurden der „Conducator“ und seine Frau im Hinterhof einer Kaserne an die Wand gestellt und erschossen. Sollte das alles nicht den diversen internationalen Konventionen entsprochen haben, dann sei hier zum Ausgleich die Erinnerung an die beispiellose Arroganz und Ignoranz wiederbelebt, mit der die beiden, besonders auch die „liebende Mutter der Nation“ Elena Ceausescu das Land jahrzehntelang regierten. Ob sich Herta Müller nun, nach ihrer Ehrung, in Rumänien als weibliches Gegenmodell zur monströsen Verlogenheit der selbsternannten und dennoch von diversen westlichen Institutionen hofierten „Gelehrten von Weltruhm“ durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. In anbetracht des allgemeinen „Conducator-Revivals“ und all der frischen Blumen, die täglich auf dem Grab der Ceausescus abgelegt werden, sind Zweifel erlaubt.
Erinnerung 2
Im Jahr 2003 war die neue Nobelpreisträgerin für Literatur Herta Müller zu Gast beim Festival Poesie International in Dornbirn. Die Veranstaltung wurde wie alle anderen Lesungen der damaligen Serie aufgezeichnet und ist hier archiviert.
Herta Müller las aus ihrem im Jahr 2000 erschienenen Lyrikband Im Haarknoten wohnt eine Dame. „Es ist ein Buch zum Lesen, zum Hören und zum Sehen“, zählt Ingrid Bertel die möglichen Aspekte der Rezeption in ihrer Einführung auf, von denen wir hier nur einen abdecken können bzw. wollen, die anderen holen Sie am besten nach, indem Sie sich das Buch beschaffen. Dann werden Sie nämlich sehen, dass es sich um eine Sammlung von Collagen aus einzelnen Wörtern handelt, die Herta Müller aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnitten und zu Gedichten zusammengesetzt hat, inhaltlich „fast unbeschwert, oft moritatenhaft makaber, oft komisch“ (I. Bertel)
Im Augenblick ist das Buch zwar, wenn überhaupt, nur antiquarisch erhältlich, das dürfte sich aber bald ändern. Spontaner zu haben ist vermutlich Die blassen Herren mit den Mokkatassen, ein Gedichtband aus dem Jahr 2005, in dem Herta Müller diese dadaistische Cut-up-Technik erneut eingesetzt hat. Berücksichtigt man das Schicksal der Autorin und die Bedingungen, unter denen sie ihre schriftstellerische Laufbahn in Rumänien begonnen hat, dann könnte man die so auf Blätter geklebten Gedichte, zumindest formal, als eine Serie von anonymen Drohschreiben betrachten, geschickt aus dem literarischen Untergrund, gerichtet an jene, die ihr das Recht auf Öffentlichkeit verweigert haben.

Herta Müller bei Poesie International Dornbirn [mp3]
Informationen über Herta Müller  [hier]
Alle Lesungen von Poesie International Dornbirn 2003  [hier]